Fluchtmigration
Eine biographietheoretische und figurationssoziologische Studie zu lebensgeschichtlichen Verläufen von Geflüchteten aus Syrien
Refugee Migration
A Biographical and Figurational Study of Life Histories of Syrian Refugees
by Arne Worm
Date of Examination:2019-03-14
Date of issue:2019-03-21
Advisor:Prof. Dr. Gabriele Rosenthal
Referee:Prof. Dr. Joanna Pfaff-Czarnecka
Referee:Prof. Dr. Steffen Kühnel
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Name:Worm 2019 Fluchtmigration.pdf
Size:1.71Mb
Format:PDF
Abstract
English
The armed conflict in Syria which began in 2011, caused one of the largest refugee movements in the context of collective violence and war since World War II. Those who fled during the complex, increasingly violent and militarized Syrian civil war – in total about half of the pre-conflict population – have predominantly looked for a place of refuge, security and participation chances in other regions within Syria or in neighboring countries. Relatively few people had the resources to migrate to comparatively distant countries (such as countries in the “European Union”). This sociological study focuses on the processes of “refuge migration” and the experiences of refugees who migrated in the context of the armed conflict in Syria via the Spanish-Moroccan border zone surrounding the enclaves of Ceuta and Melilla. Based on a combination of biographical and figurational approaches and the concept of belonging, I empirically reconstruct the migration, social situations and self-presentations of Syrian refugees in the Spanish-Moroccan border zone. My ethnographic research in the Spanish enclaves shows differences and similarities in the way Syrian refugees experience, deal with and present their social situation in these transit spaces of migration. A central finding of my study highlights that the refugees’ presentation of their life stories and their escape from violence are heavily overlaid by their present preoccupations in the refugee camp and the presentation of shared – or supposedly shared – experiences of fleeing from war. The focus of their biographical self-presentations lay on their precarious and heteronomous current situation and the presentation of a homogenizing we-image as “Syrian refugees”. These patterns of self-presentation obstructed speaking about their “individual” courses of flight from a war. This tended to cover up differences and social conflicts that existed in Syria before the war as well as diverging “individual” experiences of the war. Drawing on biographical case reconstructions, I contrast these findings by showing how war and armed conflict are processes of social transformation that have different meanings and different consequences for individuals and social collectives. The cases of a Syrian-Kurdish refugee, a Syrian-Algerian-Palestinian family and a Syrian-Turkmen married couple show how processes of “refugee migration” are interrelated with diverging life and collective histories. The interviewees’ experiences during the armed conflict, as well as the courses of “forced migration” are inherently related to changing positions within networks of interdependency. This explains why the conflict has very different consequences for the refugees’ present perspectives and constructions of belonging. My empirical results are discussed in the light of the state of the art in the field of refugee-studies and forced migration research. Drawing on perspectives from sociology and anthropology of violence and armed conflict, I conceptualize “refugee migration” as a certain type of migration: “Refugee migration” is a type of migration that is constituted in the context of social transformations and changes in the social order caused by, and causing, collective violence. Violence-based transformations are an integral part of the genesis and the overall trajectories of these processes of migration. These transformations affect social boundaries and figurations between individuals and groupings, constructions of belonging and patterns of biographical (re-)orientation. “Refugee migration” is not only a reaction to collective violence, but must be seen in its ongoing embeddedness in the dynamics of violence which structure the whole migration process.
Keywords: Forced migration; refugees; Syria; biographical research; belonging; sociology of violence; Spain/Morocco; border studies; Ceuta/Melilla; narrative interviews
German
Der bewaffnete Konflikt in Syrien seit dem Frühjahr 2011 hat in quantitativer Hinsicht eine der größten gewalt- und konfliktbedingten Fluchtbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg hervorgebracht. Die im Kontext des vielschichtigen, in seinem Verlauf zunehmend extrem gewalttätigen syrischen Bürgerkrieges flüchtenden Menschen, insgesamt etwa die Hälfte der syrischen Gesamtbevölkerung, suchten und suchen überwiegend innerhalb anderer Regionen Syriens oder in den unmittelbar angrenzenden Ländern Schutz, Sicherheit und soziale Teilhabe. Nur verhältnismäßig wenige von ihnen flüchteten in geographisch relativ weit entfernte Staaten (zum Beispiel in die „Europäische Union“) beziehungsweise hatten die Möglichkeit und die Ressourcen, sich auf diesen Weg zu machen. Die vorliegende soziologische Studie behandelt mit den Fluchtmigrationen und Fluchterfahrungen von Menschen, die vor dem Hintergrund des gewaltsamen Konfliktes in Syrien zwischen 2014 und 2017 über den spanisch-marokkanischen Grenzraum um die Enklaven Ceuta und Melilla migriert waren, einen Ausschnitt dieses Migrationsgeschehens. Anhand einer Kombination von biographietheoretischen, figurationssoziologischen und zugehörigkeitstheoretischen Perspektiven erfolgt eine empirische Untersuchung zu den Fluchtverläufen, Lebenssituationen und Selbstpräsentationen von Geflüchteten aus Syrien im spanisch-marokkanischen Grenzraum um die Enklaven Ceuta und Melilla. Die ethnographische Forschung arbeitet Unterschiede und Gemeinsamkeiten heraus, wie Geflüchtete aus Syrien ihre Lebenssituationen in diesen spezifischen Transiträumen erlebt, gestaltet und dargestellt haben. Ein zentraler Befund dieser Studie ist, dass die Selbstdarstellungen meiner syrischen Gesprächspartner*innen in Ceuta und Melilla bezüglich ihrer Lebensgeschichten und Fluchtverläufe in erheblichem Ausmaß auf ihre gegenwärtigen Lebenssituationen im Flüchtlingslager und zudem auf die kollektiven, vermeintlich oder tatsächlich geteilten Erfahrungen bezogen waren. Der Fokus der Darstellungen auf die gegenwärtig als ausgesprochen prekär und fremdbestimmt wahrgenommenen Lebenssituationen sowie auf die Selbstthematisierung innerhalb der Rahmung eines Wir-Bildes als syrische Geflüchtete überlagerte deutlich die Thematisierbarkeit der individuell-konkreten Fluchtverläufe. Dadurch wurden auch die Unterschiede zwischen den Geflüchteten hinsichtlich ihrer Lebenssituationen in Syrien vor dem Konflikt und ihre divergierenden Konflikt- und Gewalterfahrungen tendenziell verdeckt. Demgegenüber zeigen die Fallrekonstruktionen die divergierenden Bedeutungen und Folgen von gewalt- und konfliktbedingten Transformationsprozessen für die Fluchtverläufe. Anhand von biographischen Fallrekonstruktionen zu den Fällen eines syrisch-kurdischen Geflüchteten, einer syrisch-algerisch-palästinensischen Familie und eines syrisch-turkmenischen Ehepaares wird herausgearbeitet, wie sich die Prozesse der Fluchtmigration vor dem Hintergrund unterschiedlicher lebensgeschichtlicher Verläufe gestaltet haben, in welcher Beziehung das Erleben des Konflikts und der Verlauf der Fluchtmigration zu den sich wandelnden Positionierungen in Figurationsgeflechten steht und welche Folgen für die gegenwärtigen Perspektiven und Zugehörigkeitskonstruktionen daraus hervorgehen. Die empirischen Ergebnisse werden gegenüber dem bestehenden Forschungsstand im Feld der Flucht- und Flüchtlingsforschung und unter Rückgriff auf Überlegungen der soziologischen und anthropologischen Perspektiven auf Gewalt und bewaffnete Konflikte diskutiert. Dies führte zu dem konzeptionellen Vorschlag, Fluchtmigrationen als Migrationsverläufe zu definieren, die sich im Kontext von gewaltverursachten und -verursachenden Prozessen gesellschaftlicher Ordnungsbildung und Transformation herausbilden und deren Gesamtverläufe, über die konkrete Fluchtkonstellation hinaus, integral mit diesen Prozessen verbunden sind. Diese Transformationen betreffen soziale Bindungen und Verflechtungen zwischen Individuen und sozialen Kollektiven, Konstruktionen von Zugehörigkeiten, lebens-, familien- und kollektivgeschichtlich aufgebaute Orientierungen. Flucht ist nicht nur als Reaktion auf kollektive Gewalt zu betrachten, sondern ist – und bleibt in ihrem Verlauf – mit Dynamiken gewaltbedingter Transformation verwoben.
Schlagwörter: Fluchtmigration; Flüchtlinge; Syrien; Biographieforschung; Bürgerkrieg; Gewaltsoziologie; Spanien/Marokko; Ceuta/Melilla; Zugehörigkeit; Asyl