by Eva-Maria Alexandra van Straaten
English
In this book, I explore frictions over musical details as indicative of a field of tension between musical knowledge and power that is thoroughly intertwined with its academic study. To do justice to this complexity, in this book I adopt an emphatically “restless” (Agawu 2003; Abels 2016a, 2016b; Kramer 2016) approach. I seek to lay bare “the enabling constructs of […modes of listening as] knowledge systems,” (Agawu 2003: xvii), which include and inform what is considered legitimate musical knowledge practices within both academia and Maihar gharānā. With anthropologist Annemarie Mol, I understand knowledge not “as a matter of reference, but as one of manipulation” (Mol 2002: 5). This allows an approach that moves beyond, rather than rejecting, one mode of listening as authoritative. Instead, I examine how modes of listening, as “knowledge practices” (ibid.: 5), interact with and shape contemporary realities of Hindustani classical instrumental music. I explore empirical material presented as sangīt “encounters”: (Ahmed 2000) moments of tension regarding musical nuances that, so I argue, can be analyzed as strategies of controlling, transgressing, and transforming the normative boundaries of a musical system. This follows from the conviction that naturalized aesthetic boundaries become audible only in the moment of their disruption.
Keywords: Hindustani classical instrumental music knowledge power listening
German
Diese Dissertation erforscht die Verhandlung des Spannungsfeldes von Macht und Wissen durch verschiedene Arten des Zuhörens in Hindustani Klassischer Instrumentalmusik(-wissenschaft). Ich argumentiere, dass Zuhören als aktiver Modus des Umgangs mit Musik in diesem Spannungsfeld auf zwei miteinander verbundenen Ebenen eine Rolle spielt. Erstens ist Zuhören als selektive Wissenspraktik zu verstehen, die die normativen Grenzen und Inhalte von dem, was als Hindustani Klassische Instrumentalmusik gehört wird, aktiv mitgestaltet und manipuliert. Zweitens mobilisieren Musiker-und-Musikwissenschaftler aber genau diese distinkten Arten von Zuhören als diskursive Topoi innerhalb (normativer Diskurse über) musikalische Wissenspraktiken: Die Fähigkeit, auf eine gewisse Weise zu hören und das Er_hörte (explizit nicht) zu verbalisieren und/oder zu repräsentieren, ist durch komplexe historische Macht- und Wissensdynamiken mit Autorität aufgeladen. Damit kann die Fähigkeit zu hören als Baustein von Autorität in musikalischen Machtverhandlungen innerhalb zweier miteinander verwobener Wissensinstitutionen, Gharānā-und-Musikwissenschaft, mobilisiert werden.
In meiner Dissertation analysiere ich einige Elemente dieser doppelten Existenz des Zuhörens, die mir während meiner Feldforschung mit Schülern dreier kanonisierter Instrumentalmusiker der Maihar gharānā, Ali Akbar Khan, Annapurna Devi, und Nikhil Banerjee, begegnet sind. Während diese Analysen explizit exemplarisch und fragmentiert angelegt sind, argumentiere ich, dass sie die Dringlichkeit der Hinterfragung, der Denaturalisierung standardisierter (musikwissenschaftlicher) (Hör-)Analysekategorien und -formen, wie auch der damit verbundenen und reproduzierten Machtstrukturen (hier: Musikwissenschaft-und-gharānā), aufzeigt. Zentral ist dabei die Frage, welches Wissen uns alternative Modi des Zuhörens über Spannungsfelder innerhalb zeitgenössischer musikalischer Praktiken (Sangīt encounters) eröffnen können. Dabei zeigt sich, dass das postkoloniale Dilemma auch in der Musikwissenschaft allgegenwärtig ist: es manifestiert sich in der Unmöglichkeit, mich in meinen eigenen Analysen komplett von standardisierten, und wie ich argumentiere stark kolonial geprägten, (akademischen) Hörgewohnheiten zu trennen. Die Herausforderung dieser Dissertation liegt in der Suche nach dem Hören als de_kolonialer Wissenspraktik, im gleichzeitigen expliziten Bewusstsein der Tatsache, dass dieses Suchen immer fehlschlagen wird. Der Wert dieser Arbeit liegt damit weniger im Zugewinn konkreten Faktenwissens, sondern mehr in der Dekonstruktion autoritativen Wissens und dem Suchen nach alternativen Wissenspraktiken.
Um die historische Entwicklung und inhärente Komplexität der in der Hindustani Klassischen Musik(-wissenschaft) üblichen Hörstandards aufzuzeigen, analysiere ich in meinem Kapitel ‚Resonances of Historical Fragments,’ wie bestimmte Arten des selektiven Zuhörens innerhalb von politisch konnotierten Texten eingesetzt wurden, um spezifische Ideen über Hindustani Musik zu erzeugen. Ich zeige dabei, dass die Maßstäbe der In-Wert-Setzung von Musik über das Zuhören in orientalistischen wie auch nationalistischen Schriften des 18. bis frühen 20. Jahrhunderts vergleichbar und gleichermaßen problematisch waren, obwohl diese Diskurse unterschiedliche Ziele verfolgten. Dass sich diese Arten von musikalischer Aneignung über selektives Zuhören in den Post-Independence-Studies wiederfanden und auch heute noch immer unkritisch reproduziert werden, zeige ich im Kapitel ‚On the Double Existence of Listening.’ Ich argumentiere, dass obwohl in poststrukturalistischen und postkolonialistischen Studien in der Musikwissenschaft ähnliche Dynamiken von Macht und Wissen bereits kritisch hinterfragt wurden, die Erforschung von Hindustani Klassischer Musik sich aber von solch grundlegenden Fragen über die Selbstverständlichkeit von Analysemethoden, -arten, und die Repräsentation von Wissen über Musik, besonders erfolgreich abgegrenzt hat. Basierend auf Annemarie Mols Verständnis von Wissen als Praktik, die manipuliert werden kann schlage ich vor, Zuhören als manipulierbare Wissenspraktik zu verstehen. Dieses Verständnis erlaubt es, die doppelte Bedeutung der Produktivität von Zuhören zu betonen: Zuhören ist nicht nur selektiv, sondern ein produktiver Akt in dem Sinne, dass es bestimmte Wirklichkeiten überhaupt erst erzeugt. Vor diesem Hintergrund ist das akademische Zuhören als Teil der Praxis zu verstehen und steht nicht über oder außerhalb von ihnen: Sowohl akademische als auch musikalische Wissenspraktiken per_formen (hornscheidt 2012) die Musik, ihre ästhetische Grenzen und Inhalte, die sie lediglich vorgeben objektiv zu (re)präsentieren.
Im nächsten Kapitel, ‚Methods after Method‘, gehe ich auf meinen methodologischen Umgang mit den Herausforderungen dieser doppelte Daseinsform des Zuhörens ein, und darauf, wie sich diese Herausforderung zwangsläufig auch in der Form der Dissertation widerspiegelt. Das darauffolgende Kapitel ‚Dynamics of Canonization’ stellt die Musiker vor, mit deren Schülern ich mich befasst habe. Diese Schüler kanonisieren ihre Lehrer_innen (teilweise retrospektiv), indem sie immer wieder Schritte und spezifische Aspekte von deren musikalischen Werdegängen musikalisch und diskursiv hervorheben, In-Wert-Setzen. Ich argumentiere, dass Kanonisierung hier eher ein Werkzeug der Legitimierung der (Musik der) Erinnernden ist denn eines, das den Wert derer repräsentiert, der sich erinnert wird. In den nächsten drei Kapiteln analysiere ich Momente der Spannung, in denen Konflikte über die Grenzen und Inhalte der Hindustani Klassischen Instrumentalmusik über das Zuhören verhandelt werden. Ich zeige auf, wie verschiedene, immer komplex konnotierte Arten des Zuhörens nach „Klang,” „Ton“ und „Virtuosität“ diese musikalischen Elementen immer unterschiedlich per_formen. Dieser Ansatz ist als Alternative zum Aufzeigen verschiedener, angeblich gleich zu bewertender, Perspektiven auf ein schon existierendes musikalisches Objekt zu verstehen. Ich zeige stattdessen, wie durch diese unterschiedlichen Wissenspraktiken Hindustani Klassische Instrumentalmusik erst per_formiert wird, und dabei als Vielfalt erscheint (im Sinne von Mols (2002) Konzept des “multiple”). Ich beende die Dissertation mit dem Plädoyer, dass eine Anerkennung dieser ontologischen Vielfalt, ohne auf normative Mechanismen von Macht und Wissen zurückzufallen, auch ein Versuch sein muss, die dazugehörige Fiktion der musikwissenschaftlichen und künstlerischen Autorität über musikalische Bedeutung und musikalischen Wert aufzugeben.